KK016 Stadt Netz Kunst

KHJeronDer Medienkünstler Karl Heinz Jeron war einer der Mitbegründer der „Internationalen Stadt“ Berlin, einem Webprojekt von 1994-98 im Spannungsfeld zwischen Netzkunst und freien Bürgernetz. Jeron (*1962 in Memmenigen geboren) hat ursprünglich Malerei studiert und sich später mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Seine künstlerischen Arbeiten sind Experimente mit Robotorn, ein Spiel mit Netzphänomenen und der Performanz von Maschinen in unerwarteten Kontexten.

Veröffentlicht am 31.05.2015

Podcast-Notizen (Shownotes)

00:00:00 Einstieg
Zu Besuch in Karl Heinz Jerons Atelier in Hohenschönhausen – Atelierkomplex im ehemaligen Sperrbezirk des „Stasi-Gefängnisses“ – die Stasi baute hier Sondergeräte wie Brieföffner oder Abhöranlagen – wenn man hinter manche Tür guckt stehen da noch obskure Geräte – Boden und Türen sind noch original – Eine Umgebung wie vor 30 Jahren – nicht im Hipster-Zentrum, sehr preiswert – in Karl-Heinz Jerons Künstleratelier gibt es auch viele obskure Maschinen – Medienkünstler – würde sich selber nicht als Hacker bezeichnen – Er identifiziert keine Probleme und löst sie dann, sondern er stört viel mehr – Er inszeniert Probleme in einer absurden Weise – hypothetische Maschinen – Softwarehintergrund, hat viel programmiert – von-Neumann-Maschinen, Turingmaschinen – Übertragung auf roboterartige Figuren, Spielzeug, Bastelmaterial

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00:04:33 München, Studium, Internet
Karl-Heinz Jeron hat in den 1980er Jahren in München Malerei studiert – hat das aufgegeben, mag Malerei weiterhin – amerikanische Hard Edge Malerei – konnte dem nichts mehr hinzufügen – Ende der 1980er Jahren mit Videokunst und Internet, hatte früh eine E-Mail-Adresse, ein Bereich in dem er sich ausdrücken kann – offene Systeme – Eine Steilvorlage als das mit dem Internet losging – Die ursprüngliche Motivation war eine kriminelle  – Eine Jugend als Raubkopierer von C 64 Spiele für seine Schulfreunde – primitive Verschlüsselungen – Einstieg in die Welt des Programmierens – kein Spiele Dealer: mangelnde Geschäftstüchtigkeit zieht sich als roter Faden durch das Leben – Computer- und Crackerhefte in Bibliotheken (das Google der achtziger Jahre) – Anleitungen was ein GOTO oder ein peek and poke ist – was ist ein Register – so fängt man dann an ein bisschen mehr zu verstehen von der Maschine – war nicht so kompliziert – die 1980er Jahre als Schlangenlinienkurs – Von der Malerei zur den Wissenschaftstheoretikern – Interesse für formale Sprachenund logische Probleme – an der philosophischen Fakultät in München gab es Wolfgang Stegmeier – in der Entourage: Ulrich Blau, eine Logiker – traf auf Jerons unartikuliertes Interesse für logische Systeme – Möglichkeitsraum, integraler Bestandteil von offenen Systemen – Blau fragte im Seminar, wer kann denn programmieren? – Jeron meldet sich – bekam 1986 einen E-Mail-Account – Dateneingabe – das Internet kennen gelernt – IRC Chat – das war Kommunikation mit Leuten irgendwo auf der Welt, zum Nulltarif – IRC Chat als textbasierte Kommunikation – kein World Wide Web zu der Zeit – alles was man sich hin und her schicken könnte waren Texte – nicht farbig, schwarzer Hintergrund und bernsteinfarbene Buchstaben (Digital Equipment) – Dinge eingegeben und sich gefreut, dass in einer anderen Ecke der Welt jemand geantwortet hat – Kommunikation zu Wissenschaftsthemen für Ulrich Blau – Gopher als Hypertext Version vor World Wide Web – erste Hyperlinks – Informationssysteme früh kennengelernt.

00:14:37 Berlin, kurz vor der Wende…
Die Systeme für Kunst zu nutzen startete erst 1987 in Berlin – unglaublich große Mailbox Szene – zum Ortsgesprächstarif von damals ca. 21 Pfennig konnte man endlos telefonieren – gab viele Modemleute – Mailbox ähnlich wie E-Mail – auf Computer hinterlegte Nachrichten – Datenaustausch via Telefonanruf – Verbund von Rechnern von Hobbyisten – The Thing fing als Mailboxsystem an – Austausch von Kultur- und Kunstinteressierten – Alles textbasiert, meist schwarz-weiß – BTX-Kunst von Thomas Bayerle – ASCI-Art – Lebensgefühl vorm Mauerfall – Interesse an spezieller Musik – Industrial Musik in Berlin an vielen Ecken zuhören – Clubs, man hing halt so rum – Projekte, Aktionen, was man machen kann, Performances.

00:19:49 Netzkunst-Ursuppe Berlin
Mit späteren Kollaborateuren durch einen Medienkunstfestival-Aufruf in einem Stadtmagazin zusammengekommen – fühlte sich angesprochen, weil mit Video gearbeitet – Fehlerforschung, Interesse an Dysfunktionalitäten bei der Videobildbearbeitung – Pit Schulz und Joachim Blank  organisierten Electronic Arts Syndrom, 1991 – Leute kennengelernt, später gemeinsame Projekte wie Handshake, Internationale Stadt – Gründung eines Vereins „Lux Logis“ („die Ur-Suppe“) – Piazza Virtuale (1992) von Van Gogh TV im Rahmen von documenta IX – dort auf Armin Haase und Thomas Kaulmann (ThomaX) getroffen – „Echte Kommunikation, das war schon unser Interesse“ – fast alle aus einem künstlerischem Umfeld – mit bisherigen statischen Medium unzufrieden – stark an Konzeptkunst interessiert (Institutionskritik und ideenbasierte Kunst) – „Weisse Männer“ & Barbara Arselmeier – Künstlerinnen: Eva Grubinger (ab 1994), Valie Djordjevic (ab 1995, Internationale Stadt).

00:25:10 Internationale Stadt: Vorgeschichte
Nicht nur Berliner Geschichte – Mailbox-Szene und Kommunikationswilligkeit  – war Insel-Stadt, Mauer-Stadt, Transit-Stadt – Kommunikation wie Telefon und Mailbox waren wichtig und haben das geprägt – künstlerisches Interesse & Infrastruktur = Kommunikationsexperiment – wie wird im Netz kommuniziert – IRC: textbasierte Chatsysteme früher stärker in Mode, heute mehr Messaging (one to one oder geschlossene Gruppen) – damals offene IRC-Channels, fremde Leute konnten sich weltweit einklinken – niedrigschwellige Kommunikation – themenbasiert – IRC gibt es immer noch  (z.B. hat Servus.at einen IRC Server, kann man ausprobieren) – in medienkritischen IRC-Channels sind damals die „üblichen Verdächtigten aufgetaucht: Geert Lovink, Heath Bunting oder Josephine Bosma.

00:30:42 World Wide Web
World Wide Web – Provider anfangs nur für Business Kunden – sehr teuer – Detecon bot anfangs keine Privatzugänge – 1995 wurde BTX von der Telekom umgebaut als Zugangssystem zum Internet: T-Online – Kleine Firma „Contributed Software“ hatte Zugänge bereit gestellt (ThomaX Mitbetreiber) – man bekam problemlos Platz auf dem Webserver – schon mit dem Projekt „Handshake“ (1993/4: Blank, Arselmeier, Haase, Jeron) dort untergekommen – damit bei der Ars Electronia und European Media Art Fest – fast ein Mail Art-Projekt – via Gopher (textbasiert, FTP) – 1. Webserver in Berlin war an der FU, der 2. war bei „Contributed Software“ – weiteres Projekt „Feldreise“ (1994) in ehemaliger russischen Kaserne – Kontakte, wie Abends weggehen im Club: „Personen, die sich aus nicht-technischen Erwägungungen abends zum Chat einfanden“, das war großartig – mehr Leute kamen hinzu, in unglaublicher Geschwindigkeit.

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00:37:42 Internationale Stadt: der Anfang
„Handshake“ konvertierte in das  größere Projekt „Internationale Stadt“ – Diskussion auf der Transmediale zum Namen – Die Stadtmetapher fungierte als Krücke um Leute das Projekt zu beschreiben – das soziale Gefüge der virtuellen Plattform als „Stadt“ – „International“ um eine lokale Piefigkeit zu vermeiden – Kommunikationsprojekt, welches Leute aus unterschiedlichen Kulturräumen inkludieren können sollte – Wie sah das aus? (Layout) – „Der Knochen“ (Anmutung eines Atomiums) – Kugeln als Einstiegspunkte zu unterschiedlichen Themen – keine statischen Seiten, sondern dynamisch: „da klappern wieder die Pearl-Scripte“ –  ein vorsinnflutliches Soziales Netzwerk mit Kunst, Kultur und Musik als Ziel – Planung 1993 – Start 1994 – wichtig: öffentliche Terminals: „Café X-ESS“ im Haus der Kulturen der WeltClubnetz: textbasierte ASCI-Terminals im Club zum Chatten (mit betreuten Channel) – mit Bots (Jerons Bot: Elektra) – standen in Berliner Clubs wie WMF, E-Werk (gab es etwa 1 Jahr) –

00:50:58 Internationale Stadt: Umsetzung
Account für 25 DM der Internationalen Stadt (E-Mailadresse, Internet-Zugang, Zugang zum Webserver, Homepage-Baukasten, Webchat, Linklisten) – Nutzer/innen: Querschnitt durch die Gesellschaft – WWW noch recht asynchron, Webchat zu der Zeit inovativ, da Echtzeit – Heute Webseiten stark interaktiv, damals eher wie ein Bilderbuch, viele Listen – Keine Kommentarfunktionen, keine integrierten Videos, sondern Downloads von Mediadateien – Mails konnte man durch Internationale Stadt Mails im Webserver lesen – Standard: E- Mails via E-Mailsserver am Heimcomputer – in der besten Zeit ca. 150 Nutzer/innen – Kerngeschäft nicht Zugang (1995 gab es Zugänge mit T-Online und Compuserve) – Featuretis – Internationale Stadt: Netzkunst? – 7 Gründungsmitglieder u.a. Barbara Aselmeier, Armin Haase, Karl Heinz Jeron, Joachim Blank, Thomas Kaulmann, Frank Kunkel, Gereon Schmitz  – später 11 Akteure u.a. Max Bareis, Valentina Djordjevic und Norbert Hartel – Projektarbeit

01:03:45 Internationale Stadt: Netzkunst
Teatro Telematico„-Treffen mit Vu Cosic, Heath Bunting u.a.: Netzkunst-Begriff  (Net.Art, 1996) – zu der Zeit wurde „Internationale Stadt“ nicht als Netzkunst wahrgenommen – Beschreibung als Kontextsystem (Blank) – schwierige Stadtmetapher – wie soll man das bezeichnen, was man da machte? – künstlerische und angewandte Aktivitäten (z.B. Umweltdatenbank) – seit „Handshake“ vernetzt mit Netzkünstlern wie Heath Bunting, Jodi,  – documentaX – Holger Friese (antworten.de, 1997) – Blogartiges (Kathy Rae Haffmann, „Tropic of Cancer„) – Sehnsucht nach Homepage („Without Adresses„, 1997) – 1998 Ende Internationale Stadt – Ausstieg Blank & Jeron vor documentaX – Netzkunst als Konzeptkunst – das Konzept ist das interessante – Wer keine Homepage hatte, war nichts – heute reicht Facebook, Twitter- oder Google-Account

01:16:10 Internationale Stadt: Ende & Archivierung
Wo findet man die „Internationale Stadt“ heute? – Archive.org Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Digital Craft): Archivierung von „Internationale Stadt“ – Archivkarton mit Material verloren – Statischer Abzug, muss überarbeitet werden, tote Links – 2. Versuch Boltzmann Institut: Linz – fast das Beste findet sich bei BlankJeron.com: die alten PDFs & Screenshots (z.B. PDF 1, PDF 2)

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01:24:33 Zurück in den Kunstbetrieb
Zu Zweit weitergemacht (Blank & Jeron) – Künstlerduo – Ideen für Netzkunst – Hybrid: sowohl physische als auch virtuelle Arbeiten – „Dump your Trash„, 1998 – Webseiten-Recycling als Grabstein (konnte real bestellt werden) – weg vom Internet – die digitale Spur – „Scanner++„, 1998 – heute wieder bei Hardware angekommen: Atelier wie eine „Lötbastelgeekmaker-Station“ – die Basteldinge sprechen – Sprache ist der rote Faden in seinen Arbeiten – Vehikel statt Akteure – absurdes Theater – das Objekt hat eine Funktion – Niedlich, aber ungelenk

01:32:26 Sim Gishel
Sim ist unbeholfene Roboter-Figur – improvisiertes Aussehen – Theorie zum Uncanny Valley – Akzeptanz des Roboters – nicht menschenähnlich, sondern Mitleid – Stelzen aus Panzerrohren, steckbar – Sim Gishel: Stück von Autechre (generative Musik) – Titel durch einen Wortgenerator entstanden – klingt nach einem Namen – die Vorgängerarbeit war eine Oper mit zwei singenden Robotern („Hermes Oper„, 2012) – singender Roboter für Castings-Shows – vor Dieter Bohlen singen – bei verschiedenen Shows beworben, kamen beim „Supertalent“ sehr weit – Castingshow in Wiesbaden – Sim Gishel als Bänkelsänger (Ardelle) – Abschluss „In C“ von Terry Riley (leider Gema, daher rausgekürzt, klingt in etwa so, nur in einer Sänger-Sim Gishel-Interpretation) – Sim Gishel singt im Rahmen von Jerons Ausstellung „Hypothetische Maschinen“ am 19./20. Juni, 21 Uhr in Berlin.

Weitere Links & Infos:

Presentation by Karl Heinz Jeron – Remixing Digital Cities

Gast: Karl Heinz Jeron (@khjeron)
Gastgeberin: Tine Nowak (@tinowa)
Technik: Uvo Pauls/Audiohölle
Musik: „The Bottom (instrumental)“ by Josh Woodward (CC BY)

Tine Nowak

Gastgeberin des Kulturkapital-Podcasts. Arbeitet beim Museum für Kommunikation Frankfurt.